Die Klage Brille und die Brille der Umkehr:

Klagen hören wir in diesen Tagen reichlich. Eltern klagen, dass ihre Kinder nicht in Kindergarten oder Schule gehen können, die Fluggesellschaften klagen, dass 8 von 10 Flugzeugen nur noch am Boden stehen, die Automobilbranche verkauft keine Autos, die Deutschen reisen nicht mehr genug, die Partys fallen aus, die Freizeitparks sind geschlossen bzw lassen nur eine bestimmte Anzahl Besucher eintreten usw. usw. Ist Klagen für Deutsche etwas Typisches? Wie oft wird die Frage „Wie geht es Dir?“ beantwortet mit „Ich kann nicht klagen!“,  oder die Frage „wie schmeckt das Essen“ mit „Gar nicht schlecht!“ oder „der Chef schein Dich zu mögen, in drei Monaten hast Du noch keinen Anschiss bekommen.“

Was ist mit mir oder mit der Praxis in der Pandemie, hab ich Grund zum Klagen? Was hat sich für mich denn verändert: Meine Frau und ich gehen nur noch sehr selten in ein Restaurant sondern kochen wieder selber oder holen uns Mittagessen zum mitnehmen;  ich sehe, dass mein Umsatz um 30% zurück geht;  ich konnte zunächst meine Mutter nicht besuchen, die schon alt und nicht mehr gesund ist, ich konnte meine Freunde nicht besuchen, mein geplanter Sommerurlaub fällt aus, die Hochzeitsfeier meiner Tochter drohte zunächst ganz auszufallen, dann fanden zumindest das Standesamt und eine kleine Feier mit 18 Personen statt. Sollte ich mich also beklagen?

Bei dem Wort „Klage“ fallen mir zwei Personen ein:

Die eine war meine Patentante, sie hatte einen angeborenen Herzfehler und musste sich ihr Leben lang schonen, sie war niemals auf Reisen, niemals im Urlaub, immer zuhause, Haushalt, Ehemann, Kind, Gemüsegarten. Die Hausarbeit, das Bearbeiten des Gartens und das Verarbeiten seiner Früchte machten den großen Teil ihres Lebens aus. Alle Arbeiten gingen immer nur langsam, denn Hast und Last verkraftete ihr Herz nicht. Wann immer ich meine Tante fragte wie es ihr gehe, antwortete sie: „ich bin zufrieden“ – und diese zufriedene Ausstrahlung hatte sie auch, bis zum Schluss, und sie wurde immerhin trotz ihrer Herzerkrankung 70 Jahre alt.

Die zweite Person, die mir zum Stichwort „Klage“ einfällt ist Hiob, also der aus dem gleichnamigen Buch der Bibel.  Klagen ist biblisch. Klage ist die Reaktion des Menschen auf Leid. Im Leid fühlen wir uns von Gott verlassen. In der Klage geht es angesichts des Leids immer um die Fragen „Warum?“ und „Wie lange noch?“ Mit solchem Leid meint die Bibel aber nicht das was ich empfinde wenn mein Auto gestohlen wurde oder wenn alle um mich herum das neuere, schickere Mobiltelefon haben oder wenn meine Freunde Reisen unternehmen, die ich mir nicht leisten kann. Nein, Leid in der Bibel ist schweres Leid – Ereignisse, die das Leben dauerhaft schwerwiegend beeinträchtigen oder gar beenden, die dauerhaft krank oder invalide machen, die ausgrenzen ohne Aussicht auf Besserung oder Heilung. Wenn wir betroffen sind, weil wir selber erkrankt sind oder einen Angehörigen verloren haben, dann dürfen wir klagen (und tun es oft nicht ausreichend sondern gehen lieber wieder möglichst bald zum Tagesgeschäft über). So wie Hiob, so habe ich selbst schon erlebt, dass Gott sich im tiefen Leid mir zugewandt hat, mich selbst schon einmal vor dem Tode errettet hat. Ich habe erlebt, was es heißt, nicht tiefer als in Gottes Hände fallen zu können. Klagen unter Corona, ja – für die Kranken, die Leidenden, die Sterbenden, und für deren Angehörige. Klagen unter Corona, weil Kinder zuhause sind? weil ich nicht ans Ende der Welt fliegen kann?, weil ich nicht in die Partymeile gehen kann?, weil ich mit Rücksicht auf die anderen eine Maske tragen soll?, weil ich mich einschränken und verzichten soll? Es lohnt sich nachzudenken.

Vielleicht gelingt es dann, die Brille auszutauschen? Vielleicht gegen die Brille des Dankes?

Wofür ich selber dankbar bin:

  • Die Zahl der Corona Toten in Deutschland war im Frühjahr 2020 im Vergleich zu anderen Ländern relativ gering. (Im Januar 2021 hat das Verhalten vieler  allerdings zu einem dramatischen Anstieg der Toten geführt, was mich tief erschüttert)
  • Mehrere mir nahe stehende Menschen, die in Praxen, Fieberambulanzen und Krankenhäusern selbst Coronakranke betreut haben, blieben bisher von der Infektion verschont
  • schon seit Jahren habe ich zuhause keine so klare frische Luft mehr geatmet wie im April und im Mai 2020. Die Zahl der Kinder mit Pseudokrupp- Husten in der Praxis, die in den letzten 20 Jahren kontinuierlich angestiegen war, sank auf Null. Noch im Februar wurden wöchentlich mehrere Inhalatoren für die Kinder verordnet, ab April kein einziger mehr. Im Juli mit Lockerung der Maßnahmen änderte sich das wieder.
  • seit Jahren habe ich nicht mehr über Wochen hinweg einen derart blauen Himmel gesehen, im Frühjahr 2020 ohne Wolken und ohne Kondensstreifen. Was für ein wunderschöner Sonnenaufgang, ein unglaublich schöner Farbenmix am Horizont. Ich denke an das Worship Lied „Poiema“ („Ich kenne Künstler, die ich wirklich bewunder, doch auf keinem ihrer Bilder geht die Sonne bunter unter als in Wirklichkeit – aus Deiner Hand bin ich…“). Auf Satellitenbildern der NASA kann ich sehen, wie in vielen Ländern der Erde die Staubpartikel in der Luft geringer wurden. Die Tagesschau zeigt Satelliten- Aufnahmen von Asien, Februar 2019 im Vergleich zu Februar 2020; was für ein Unterschied.
  • es ist ruhiger geworden: April, Mai und Juni waren voll von morgendlichem Vogelgezwitscher, das ich so schon lange nicht mehr wahrgenommen hatte, beim Spaziergang merke ich wie sehr der Straßenverkehr eine permanente Geräuschkulisse im Hintergrund produziert und wie befreiend es ist, nur die Natur zu hören.
  • ich habe mehr Zeit: für die Familie, den Hund, das Aufräumen und Ausmisten von Gerümpel.
  • der Druck ist weg: mein privater Terminkalender ist schlagartig leer. Die Zahl der Veranstaltungen außerhalb der Sprechstunde ist drastisch reduziert; Fortbildungen, Qualitätszirkel, Kongresse. Erst jetzt, da der Trubel des Alltags deutlich zurückgefahren ist, wurde mir klar, dass ich auch mit viel weniger solcher Veranstaltungen zurecht komme.
  • Ich stelle fest, dass das Kochen für die Familie zuhause nur einen Bruchteil von dem kostest, was im Restaurant ausgegeben wurde, und das gemeinsame Kochen macht Freude.
  • Ich stelle fest, dass mein Kleiderschrank ziemlich voll ist.  
  • Ich stelle fest, dass ich ohne mir dies vorgenommen zu haben, viel seltener im Auto sitze, meine gefahrenen Autokilometer sind in 2020 gegenüber dem Vorjahr auf die Hälfte gesunken. Dazu kommt, dass der geringere Kraftstoffverbrauch die Preise an der Tankstelle fallen ließ. Ich kann also einen Beitrag für die Umwelt leisten und mein Auto ist auf einmal preiswerter geworden.
  • Ich stelle fest, wie schön es ist, mit dem Fahrrad in die Praxis zu fahren, die Luft, die Aussicht und die körperliche Bewegung tun einfach gut.

Natürlich vermisse ich auch einiges, vor allem die Kontakte mit Freunden. Aber ich möchte sie nicht gefährden. Sollte ich selber erkranken und wäre schon 1- 2 Tage vor Ausbruch der Symptome ansteckend, könnte ich ihnen die Infektion bringen. Das wäre eine schwere Last. So beschränken sich die Sozialkontakte auf Telefon und das Schreiben. Und ich will nicht klagen, sondern bin dankbar, dass ich selbst gesund bin, dass meine Freunde gesund sind und dass ich auf diese Weise mit ihnen reden kann.

Wenn man die Brille der Klage umdreht, wird sie zu einer Brille der Umkehr. Corona kann uns nicht nur lehren, einen dankbaren Blick zu entwickeln sondern durch Änderung unserer Einstellung eine innere Zufriedenheit zu erleben. Die innere Freiheit, die Unabhängigkeit von den Zwängen, Ängsten und Verführungen dieser Welt ist Jesu Botschaft, ist Teil des Evangeliums.

Jesus sagt: „…dann kommen die Sorgen des Alltags, die Verführung durch den Wohlstand und die Vergnügungen des Lebens und ersticken Gottes Botschaft, so dass keine Frucht daraus entstehen kann.“ (Lukas 8,14).

Ich höre in diesen Tagen oft die Klage: „wann geht es endlich zurück zur Normalität? Wenn ich im Sommer schon keinen Urlaub hatte, dann sollte es doch wenigstens im Herbst klappen.“ 

Die Brille der Umkehr aufzusetzen eröffnet die Frage: Ist das alles denn so wichtig? Versperrt unser Lebensstil nicht sogar den Blick auf das Wesentliche?

  • Ist eine Normalität wünschenswert, in der das Reisen auf Kreuzfahrtlinern das Gefühl vermittelt, zur Geldelite zu gehören, in der die rund-um-die-Uhr Versorgung an Bord mit kulinarischen Genüssen und geistiger Ablenkung im täglichen Showangebot die Sinne und den Verstand betäuben, während giftige Abgasfahnen aus den Schweröl- Schornsteinen die Luft verpesten und die Tavernen der angelaufenen Hafenstädte keine Umsätze mehr machen, weil die Touristen auf den Schiffen all inclusiv speisen?
  • Ist eine Normalität wünschenswert, in der täglich 200.000 Flugzeuge unterwegs sind (davon im Sommer 2018 19.000 zur gleichen Zeit, im März 2020 „nur“ noch gut 7.000)?
  •  Ist eine Normalität wünschenswert, in der in Deutschland im Jahr 2020 die Zahl der gemeldeten PKW mit 47,7 Mio einen absoluten Höchststand erreichte, weltweit soll es rund 1,3 Milliarden Fahrzeuge geben und jährlich werden weltweit mehr als 60 Mio neue Fahrzeuge gebaut, wodurch es auf deutschen Strassen 2018 zu über 1,5Mio km Stau kam und zu einer Luftbelastung mit 460.000 Tonnen Stickoxiden und einer damit korrelierenden steigenden Rate an chronischen Atemwegserkrankungen und Atemwegsallergien? In meiner Tätigkeit als Allergologe erlebe ich selber unmittelbar täglich die Auswirkungen dieser unserer Lebensweise. Unser Lebensstil hat Folgen, zunächst in weit entfernten Ländern, wo es uns nicht interessiert hat, aber inzwischen kommen die Folgen zu uns zurück.
  • Ist eine Normalität wünschenswert,  in der weltweit mindesten 30 Kriege gleichzeitig toben, wo Menschen getötet werden, ihre Wohnungen verlieren und froh wären, wenn sie in ein Flugzeug steigen und dem Krieg entkommen könnten während wir uns amüsieren in Freizeitparks, Konzerten, Musicaltheatern, Sterne-Restaurants, Automobilmessen, immer größeren Show- Events, kommerzialisierten Ausflugszielen, Wellnesshotels, Golfclubs, Sportveranstaltungen mit höchst bezahlten Sportlern usw. usw.?
  • Ist eine Normalität wünschenswert, in der in Ländern mit seltenen Erden riesige Schlammseen aus  Säure und radioaktiven Abfällen entstehen,  das Trinkwasser verseucht ist, oder in der Kinder in dunklen engen Mienen Kobalt abbauen, damit wir uns alle zwei Jahre die neueste Generation Mobiltelefone, Fernseher, Computer und LEDs leisten können? All das kommt auf uns zurück:  für die Herstellung einer e-Auto Batterie entsteht soviel CO2  wie ein mit fossilen Brennstoffen betriebenes Auto über 40000 (je nach Literatur findet man Zahlen bis zu 100.000) km Fahrbetrieb produziert.  
  • Ist eine Normalität wünschenswert, in der Kleidung angeboten wird zu einem Preis, der jedermann sofort einleuchtend nur durch unterbezahlte Herstellung in armen Ländern möglich ist, Kleidung, bei der anstelle der üblichen und ausreichenden Sommer- und Winterkollektion inzwischen 4-6 neue Kollektionen im Jahr vorgestellt werden, Kleidung, die immer schneller verschleißt, gefärbt mit billigsten Farben, die ganze Flüsse in Asien einfärben, so dass im Satellitenbild schon die Modefarbe der nächsten Kollektion erkennbar ist, die in der Waschmaschine bei jedem Waschvorgang massiv Farbe verliert, Kleidung aus billigen Kunstfasern, die zum Erdölverbrauch beitragen?
  • Ist eine Normalität wünschenswert, in der all unser Wohlstand auf Erdöl basiert; wir tun immer noch so, als ob die Erdölquellen nie versiegen würden? Dabei zeigt uns ein Blick nach Texas oder Baku doch so deutlich, wie ausgebeutete Erdölfelder aussehen, wenn das Fördermaximum überschritten wurde. Der Bedarf an Erdöl steigt und es ist völlig klar, dass der Tag vor der Tür steht, an dem Fliegen nicht mehr möglich sein wird und Verbrennungsmotoren still stehen werden. Und obwohl wir das wissen, wird die Entwicklung anderer Energien immer noch nur zögernd vorangetrieben.

Corona führt uns vor Augen, dass all unser Tun Folgen hat und dass eine „globalisierte Gleichgültigkeit, in der wir das befreiende Weinen des Mitgefühls verlernen“ (Papst Franziskus in dem Film „ein Mann seines Wortes“) auf uns zurück schlägt. „Wir amüsieren uns zu Tode“ (Prof Siegfried Zimmer in einem seiner Worthaus Vorträge), zuerst und viel zu lange schon zum Tode anderer, was uns wenig interessiert hat, und nun zu unserem eigenen, was dann doch endlich Umdenkprozesse erzeugt.

Die katholische Kirche in Rom leistet seit März diesen Jahren umfangreiche Unterstützung, u.a. mit einem Corona Hilfsfonds in der Caritas internationalis. Der Vatikan finanzierte u.a. Beatmungsgeräte für Länder wie Rumänien, Spanien, Sambia, Malawi, Brasilien, Ecuador, Venezuela, Haiti, die Dominikanische Republik (Quelle: Vatikan news). Papst Franziskus sieht das Geben von Almosen als zutiefst christliche Tugend, aber er weist auch immer wieder darauf hin, dass eine gerechtere Welt die Gabe von Almosen überflüssig machen würde. In einer Andacht vom 27.3.2020 schreibt er so überaus treffend:

„Der Sturm (das Virus) legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. Er macht sichtbar, wie wir die Dinge vernachlässigt und aufgegeben haben, die unser Leben und unsere Gemeinschaft nähren, erhalten und stark machen. Der Sturm entlarvt all unsere Vorhaben…, all die Betäubungsversuche mit scheinbar „heilbringenden“ Angewohnheiten, die jedoch nicht in der Lage sind … den Schwierigkeiten zu trotzen.

»Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?« Herr, dein Wort heute Abend trifft und betrifft uns alle. In unserer Welt, die du noch mehr liebst als wir, sind wir mit voller Geschwindigkeit weitergerast und hatten dabei das Gefühl, stark zu sein und alles zu vermögen. In unserer Gewinnsucht haben wir uns ganz von den materiellen Dingen in Anspruch nehmen und von der Eile betäuben lassen. Wir haben vor deinen Mahnrufen nicht angehalten, wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben unerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden..

( Kompletter Text unter: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2020/documents/papa-francesco_20200327_omelia-epidemia.html ).