1. Die Brille der Verunsicherung und Zweifel und die Brille der Wahrheit. Das Jahr 2020.

Ich habe im Dezember 2019 und Januar 2020 gedacht, das ganze beträfe uns nicht. China war weit weg. Kann man der chinesischen Berichterstattung überhaupt trauen? Sind Nachrichten aus China nicht zensiert? Bekommen wir serviert, was wir hören sollen? Nachrichten und Berichterstattung in den Medien haben schon vor langem ihre Unschuld verloren, nicht zuletzt durch den Begriff der Propaganda,  und das Vertrauen in unabhängige wahrheitsgemäße Recherche hat einen Makel, nicht erst seit Donald Trump den Begriff der Fake news populär gemacht hat. Was wir regelmäßig hören und sehen, das halten wir für wahr und richtig. 

So funktioniert Werbung. Ich habe Vance Packards buch „Die geheimen Verführer“ noch in der Schule gelesen und seitdem ist Werbepsychologie sicher noch differenzierter geworden. So wurden wir zum Sparen animiert in der Zeit der Bankenkrise 2008; und so werden wir zum Ausgeben von Geld animiert, wenn wir immer wieder hören, die Wirtschaft wachse und der „Geschäftsklimaindex“ sei gut. Seien wir uns also bewusst, dass Botschaften durch ständiges Wiederholen in uns einsickern. Die Brille des Zweifels lehrt uns: pass auf, hinterfrage was du hörst, sei skeptisch.

Mit einer aufmerksamen Grundhaltung befindet man sich in guter Gesellschaft. Descartes sagte: „Zweifel sind der Weisheit Anfang“, Paulus schreibt: „Verachtet prophetische Aussagen nicht, prüft aber alles und das Gute behaltet.“ (Thess 5)

Was  nützt uns das hier und heute? Ein aktuelles Beispiel, wie Wahrheitsbildung in der Medizin in der heutigen Zeit funktioniert, hat Richard Rox Anderson (Massachusetts Institute of Technology, Massachusetts General Hospital) schon 1985 kritisch so formuliert: „Wenn eine neue Technik oder Instrument durch Zeitungen, Fernsehen, Radio, Frauenmagazine oder andere Formen der Werbung in den Blickpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gebracht worden ist, dann ist die wissenschaftliche Auswertung vorüber und das Rennen hat begonnen. Der schnellste Weg, die Akzeptanz einer medizinischen Technik zu erzwingen, ist die Überzeugung der Öffentlichkeit, die dann umgekehrt die Ärzte überzeugt, die dann Zulassung und Einsatz der Technik einfordern. Wieder einmal ist die  Rationale «Wenn ich es nicht mache, dann wird es jemand anderes tun.»  Dies ist die neue wissenschaftliche Methodik in der Medizin.“ (zitiert bei G.Kautz- Energie für die Haut, 2018, S. 26, und bei C.Raulin – Laser und IPL 2. Auflage 2003 – S. 179).  

Bei alle berechtigten Skepsis entsteht natürlich immer mehr die Frage nach der Wahrheit. Wie können wir erkennen, was wahr ist? Man hat den Eindruck, es gebe mehrere Wahrheiten und Wahrheit wäre das, wovon eine Gruppe von Menschen überzeugt ist. Die Pandemie bringt dies noch stärker hervor. Und je länger die Pandemie dauert, umso mehr neigen die Anhänger verschiedener Wahrheiten dazu, die anders denkenden zu diffamieren. Gibt es also eine Wahrheit, die unabhängig von den Interessen von Macht und wirtschaftlichem Erfolg steht – eine Wahrheit, die für alle gilt?

Ja, es gibt eine gute Hilfe zum Finden der Wahrheit. Jesus sagt im Johannes- Evangelium „ich bin die Wahrheit und das Leben.“  Damit gibt er uns eine Orientierung; in all seinem Tun, seinen Worten, seinem ganzen Leben können wir erkennen, worauf es ankommt. Wohl gemerkt, er übergibt uns nicht die Wahrheit. Christen sollten sich nicht verführen lassen, sich aufgrund dieser Aussage als Verwalter der  Wahrheit zu sehen, denn Menschen neigen zu einseitiger Betrachtung und wie viel Unrecht und Leid ist nicht schon von Christen im Namen Gottes geschehen, in einem falsch verstandenen Wahrheitsverständnis. Prof. Siegfried Zimmer sagt: Wir Christen haben nicht die Wahrheit, sondern die Wahrheit hat uns (Worthaus.org – 9.11.1 – Der Dialog der Religionen in einer bedrohten Welt). Für uns Christen ist Jesus die Wahrheit, das bedeutet, wir sind davon überzeugt, dass niemand Gott so kennt wie er und dass seine Art zu leben, sein Denken und Handeln uns einen Maßstab gibt für wahres Leben; die Wahrheit in Jesus kann uns leiten.

Jesus hat explizit schon zu Lebzeiten vor den „Fake news“ gewarnt, die nach seinem Tode kommen werden: »Hütet euch vor den falschen Propheten! Sie kommen im Schafskleid zu euch, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.« (Matth 7,15-16 NGU).

Jesus hat übrigens niemals gesagt, dass Wahrheit besonders laut verkündet werden müsse.

Was Menschen sagen, ist das eine; aber Menschen können lügen. Was Menschen tun ist das andere, und in ihren Taten zeigt sich der Wahrheitsgehalt; an den Früchten kann man sie erkennen.

Betrachten wir also die Nachrichten, betrachten wir, was die Menschen tun, die Politiker, die Menschen im Robert Koch Institut, die Gesundheitsämter, die Menschen mit und ohne Masken, die Demonstranten, die Menschen in Altenheimen, Krankenhäusern, Arztpraxen, Schulen, Kindergärten, Universitäten usw. – was für Früchte bringen sie hervor?

Wahr im Sinne Jesu sind all die Dinge, die dem Leben dienen, die lebendig machen, die Mut machen, die Angst überwinden helfen, die Hoffnung geben, die Trost spenden, die freie Meinungen zulassen, die die Menschen fördern in ihren Fähigkeiten, die anerkennen, die persönliche Zuwendung bringen, die Frieden schaffen, die sich für Verständigung einsetzen, die Waffen abbauen, die Vertrauen zwischen den Menschen aufbauen, die gegenseitige Rücksichtnahme als Ziel haben, die die benachteiligten in den Fokus nehmen, also die Armen, Kranken, Behinderten, die Ausgegrenzten und Entwurzelten, die die  Lebensumstände dieser Menschen offenlegen und verbessern wollen, die sich für ein Leben und Wirtschaften im Einklang mit der Natur einsetzen, die Gesundheitsversorgung für alle Menschen wollen, die gesunde Lebensbedingungen ermöglichen wollen, die alle Menschen satt machen.

Nachrichten, die diesen Zielen dienen sind wahre Nachrichten; um Jesu Sprache aufzugreifen: sie dienen der Verwirklichung des Reichs Gottes.  Alle anderen Nachrichten und Botschaften, die diese Punkte ignorieren,  die uns Macht und Reichtum und Luxus als erstrebenswerte Ziele präsentieren, die die Schattenseiten unseres „zivilisierten“ Lebens verharmlosen oder verschweigen, die die Menschen spalten und polarisieren und immer die anderen als die Bösen hinstellen, die Angst schüren und Bewaffnung für notwendig erklären und sogar den Einsatz von Gewalt zum Erreichen von Zielen (und seien diese Ziel auch noch so gut) rechtfertigen – all solche Nachrichten wären für Jesus in der heutigen Sprache „Fake news“. Jesus nennt sich selbst das Licht der Welt, er lädt uns alle ein, auch heute noch, 2000 Jahre nachdem er diese Worte ausgesprochen hat: wenn wir uns auf ihn verlassen, werden wir nicht mehr in der Finsternis umherirren, sondern das Licht des Lebens haben (Johannes 8,12). Er ist das Licht, in dem wir erkennen, welches Ziel die Dinge haben, wofür sie gemacht sind und wofür sie gebraucht (oder missbraucht) werden: entweder für das Reich nach menschlichen Maßstäben mit Hierarchien, mit Machtstrukturen, mit der Gier nach Mehr, mit dem Glauben an Stärke durch Waffen und mit der globalisierten Gleichgültigkeit gegenüber den schwächeren – oder für das Reich Gottes, das Anti- Reich mit möglichst wenig Machtstrukturen, in dem die Würde jedes Menschen respektiert wird, in dem der Blick auf meine Mitmenschen genauso wichtig ist wie der Blick auf mich selbst, in dem Rücksichtnahme und Hilfe die Angst vertreiben und Waffen möglichst gar nicht mehr gebraucht werden, in dem jeder friedlich seine Meinung sagen darf, in dem Fremde willkommen sind, in dem Christ, Muslim und Jude nicht nur friedlich nebeneinander wohnen sondern miteinander reden und essen und sich für einander interessieren, in dem Schwache ihre Aufgabe finden, in dem auf Gewalt verzichtet wird, in dem möglichst wenig bestraft sondern integriert wird, in dem möglichst jeder eine seinen Fähigkeiten entsprechende Aufgabe findet, in dem das Gegenteil von arm nicht reich bedeutet sonder anerkannt und würdig behandelt, in dem das Gegenteil von reich nicht arm bedeutet sondern maßvoll zufrieden.

Mit dieser Brille kann jeder selbst die Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen, auch die vielen Nachrichten und Meinungen zum Thema Corona. 

Meine eigenen Einschätzung zur  „Wahrheit“ in Bezug auf die Pandemie ist diese:

Ich finde es erstaunlich, unerwartet, dass unsere Regierung in der Pandemie in diesem Sinne, also im Sinne von „der Wahrheit dienend“ im März 2020 so schnell und gut gehandelt hat. „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“: die Früchte sind deutlich erkennbar, Deutschland kommt im Vergleich zu vielen anderen Ländern glimpflich davon, die Zahl der Toten ist relativ gering, die Intensivstationen nicht überlastet. (Noch im Frühjahr 2020 habe ich mir gewünscht, die Regierenden würden auch in anderen Bereichen so – der Wahrheit dienend- entscheiden. Etwa bei ihren Maßnahmen zur Reduktion von Luftschadstoffen, beim Abbau von Bürokratie, bei Deutschlands Rolle als Waffenexporteur, bei der Überernährung unserer Bevölkerung, beim Umgang mit Schlachttieren, bei Steuergerechtigkeit usw.)

Im Herbst 2020 wurde ich an Churchills Zitat erinnert: „[No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed, it has been said that] democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time.- Rede vor dem Unterhaus am 11. November 1947. Niemand tut so als ob Demokratie perfekt oder all-wissend wäre. Tatsächlich wurde behauptet dass Demokratie die schlechteste Regierungsform ist, ausgenommen all diese anderen, die man von Zeit zu Zeit ausprobiert hat.)

Die Politik steckt in diesen Tagen in einem echten ethischen Dilemma.

Auf der einen Seite der Wunsch, möglichst viel Menschen vor dem Coronatod und den Qualen einer intensivmedizinischen Behandlung zu schützen. Angela Merkel sagt am 15.10. „Was wir hier tun, ist nicht genug“. Sie, die Physikerin, weiß, was eine Exponentialfunktion ist, sie bemängelt das uneinheitliche Vorgehen der Bundesländer; und die steigenden Infektions- und Todesfallzahlen in den nächsten Wochen bestätigen, dass sie die Situation richtig eingeschätzt hat.

Auf der anderen Seite der Wunsch, das freiheitlich Leben nicht zu stark zu blockieren, einerseits um die ohnehin psychisch kranken Menschen nicht in die Dekompensation zu treiben, denn auch die Psychiatrien haben im November 2020 ihre Versorgungsgrenze erreicht, andererseits um die wirtschaftliche Existenzgrundlage der Menschen nicht zu gefährden.

Dazu kommt die unausweichlich große Veränderung der nächsten Jahrzehnte: das Ende des Erdölzeitalters ist absehbar und der Klimawandel mit allen Auswirkungen ist in voller Fahrt. Die etablierten Industrien werden verschwinden und neue Industrien werden entstehen; Beispiel  Luftverkehr –  es wird ihn in seiner jetzigen Form ohne Erdöl nicht mehr geben. Corona verstärkt den Druck, neue Wege möglichst bald zu beschreiten. Bei manchen verstärkt sie aber auch den Wunsch, solange wie möglich alles beim alten zu belassen. Demokratien arbeiten langsam, Veränderungen vollziehen sich zäh. Dennoch, da bin ich ganz Churchills Auffassung, gibt es keinen besseren Weg. Ich würde sogar sagen, die Demokratie steht Jesus Vorstellung von Gottes Reich näher als jede andere Regierungsform (auch wenn sie von vielen Aspekten noch weit entfernt ist, aber das sind wir ja alle, das bin auch ich).

Für uns als kleine „Community“ in der Praxis ziehe ich aus all dem diese Konsequenz: seien wir nicht verzagt, wenn wir Verunsicherung in uns spüren. Unser Schöpfer hat uns einen Verstand gegeben, nutzen wir ihn. Im Hinblick auf Corona heißt das für mich und für unsere Praxis: weiterhin vorsichtig sein, nicht nachlässig werden, Hygienemaßnahmen beibehalten, Hände waschen und desinfizieren, Masken tragen. Wir tragen dadurch mit dazu bei, andere zu schützen. Immer wieder begegne ich in der Sprechstunde Menschen, die dankbar sind für jeden gesunden Tag. Durch die Abstandsregeln und das Tragen der Masken leisten wir alle in der Praxis einen kleinen Beitrag, damit unsere Patienten weiter leben können. Das erfüllt mich mit tiefer Freude, das ist Leben, das ist Jesus Botschaft. Und ich bete für unsere Regierung für die Weisheit, gute (wahre) Entscheidungen zu treffen.